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Kriminalhauptmeisterin Anke Symnazik, hellbraune Haare, randlose Brille, ist mit ernstem Gesichtsausdruck in einem Gespräch über häusliche Gewalt.

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Die Hölle zu Hause

Durchschnittlich zwei Mal am Tag rückt die Rostocker Polizei wegen häuslicher Gewalt aus. Viele Fälle landen bei Kriminalhauptmeisterin Anke Symanzik.

Kriminalhauptmeisterin Anke Symnazik, hellbraune Haare, randlose Brille, sitzt im blauen Jeans-Blazer an einem Tisch, auf dem eine Kaffeetasse steht.
Anke Symanzik hört Betroffenen zu, sammelt Beweise, vernimmt Täter. Und sie weiß, dass häusliche Gewalt mehr ist als handgreifliche Ehemänner und blaue Flecken.

Wo beginnt häusliche Gewalt?
»Gewalt in Familien hat viele Gesichter, das sind nicht nur Schläge und Schubsen. Den Partner oder die Partnerin mit Beleidigungen
und Abwertungen kleinzumachen, ist eine Form der psychischen Gewalt – ohne äußere Verletzungen. Sexuelle Gewalt ist ein Thema. Andere üben finanzielle Gewalt aus, indem sie dem Partner beispielsweise den Geldhahn zudrehen und ihn in eine finanzielle Abhängigkeit bringen.«

Wir denken beim Thema an Männer, die ihren Frauen Gewalt antun.
Ist das die Regel?

»Drei von vier Beschuldigten sind Männer. Trotzdem gibt es alle denkbaren Konstellationen. Auch Frauen misshandeln Männer. Sie üben eher verbale Gewalt aus, die ist nur schwer nachzuweisen. Eltern tun Kindern Gewalt an . Erwachsene Kinder werden ihren
Eltern gegenüber handgreiflich . Auch das erleben wir immer öfter: Wenn ein Partner oder Elternteil dement ist und pflegebedürftig,
kommt Gewalt ins Spiel – auch aus Überforderung.«.

Wie oft passiert Gewalt in Rostocks Familien?
»Im vergangenen Jahr haben wir bei der Polizeiinspektion Rostock 669 Anzeigen wegen häuslicher Gewalt erfasst . 2023 waren es sogar 723 Fälle. Aber das ist nur die Spitze des Eisberges, wir vermuten eine sehr hohe Dunkelziffer. Viele Betroffene suchen keine Hilfe, schämen sich. Über erlebte Gewalt zu sprechen, ist schwer. Häufig isolieren Täter ihre Opfer von Freunden und Verwandten, so dass sie keine Unterstützung im Umfeld finden und niemandem auf fällt, was los ist.«

Was hindert Betroffene aus Ihrer Erfahrung daran, aus gewalttätigen Beziehungen auszubrechen?
»Täter sind nicht andauernd gewalttätig. Anfangs sind sie oft besonders aufmerksam und charmant. Gewalt und Kontrollwahn schleichen sich erst mit der Zeit ein. Nach einem Ausbruch zeigen sie Reue, entschuldigen sich und machen Geschenke – bis die Stimmung wieder dreht. Wir sprechen von einer Gewaltspirale, weil die Abstände
zwischen den Eskalationen kürzer und die Ausbrüche schlimmer werden. Trotzdem hoffen Betroffene lange, dass sich der Partner ändert. Oder sie suchen gar die Schuld bei sich, weil der Täter ihnen einredet, dass sie verantwortlich sind. Mit Vorwürfen wie: ›Hättest Du mich nicht so eifersüchtig gemacht, wäre ich nicht ausgerastet.‹ Da ist oft auch Angst vor den Konsequenzen. Eine Mutter will vielleicht für ihre Kinder um jeden Preis die Familie erhalten und das Heile-Welt-Bild nach außen nicht zerstören.«

Was raten Sie Betroffenen, die sich nicht zur Anzeige gegen ihren Peiniger durchringen können?
»Es braucht Zeit und oft mehrere Anläufe. Da nützt kein Druck von außen. Manche Betroffene wollen gar keine Anzeige erstatten. Es gibt auch Hilfs- und Beratungsangebote, wo die Polizei außen vor bleibt. Ich empfehle in jedem Fall, die Gewalt zu dokumentieren, vielleicht in einem Tagebuch. Das ist hilfreich bei der Rekonstruktion der Ereignisse, falls der Fall doch bei uns landet. Die Aufzeichnungen helfen auch beim Verarbeiten und Reflektieren der Situation.«

Wer bringt häusliche Gewalt zur Anzeige?
»Neben den Betroffenen sind es alle möglichen Menschen aus dem Umfeld. Kinder rufen die Polizei, weil Papa die Mama schlägt und sie große Angst haben. Oder Freunde und Verwandte, die etwas mitbekommen haben . Oft auch Nachbarn, die sich Sorgen machen.«

Was können Sie über die Täter sagen?
»Nach 20 Jahren bei der Polizei kann ich feststellen: Gewalt passiert überall, in allen gesellschaftlichen Schichten und Berufsgruppen. Ich erinnere mich an eine Arztfrau, die von ihrem Mann geschlagen wurde und sich nicht getraut hat, Anzeige zu erstatten. Sie war sicher, dass ihr sowieso niemand glaubt, denn in seinem Beruf als Mediziner war der Mann aufopferungsvoll und empathisch.

Eine graue Eingangstür zur Rostocker Polizei mit dem blauen Schriftzug "POLIZEI".
Kinder rufen die Polizei, weil Papa die Mama schlägt und sie große Angst haben. Oder Freunde und Verwandte, die etwas mitbekommen haben . Oft auch Nachbarn, die sich Sorgen machen.

Oft kommen die Täter selbst aus einem gewalttätigen Elternhaus. Sie haben das Verhalten gelernt und werden es
vielleicht auch an ihre Kinder weitergeben. Wir als Gesellschaft müssen diesen Kreislauf durchbrechen. Mit dem Gewaltschutzgesetz aus dem Jahr 2002 und der Istanbul-Konvention, einem Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, ist einiges ins Rollen gekommen. Auch wurde häusliche Gewalt während der Corona -Lockdowns ein großes Thema. Durch breite Aufklärung sind wir heute aufmerksamer und sensibilisierter als noch vor einigen Jahren.«

Was kann ich als Nachbar tun, wenn ich vermute, dass etwas nicht stimmt? Wann soll ich die Polizei rufen?
»Aufmerksame Nachbarn bekommen oft mit, wenn im Haus etwas passiert . Darum sind sie wichtig. Aber nicht überall, wo es laut ist, ist auch Gewalt. Wir wurden einmal gerufen, weil ein Kind gebrüllt hat – es wollte nur keine Haare waschen . Ich rate, auf das Bauchgefühl zu vertrauen . Wir spüren ganz gut, ob es sich um einen normalen Streit handelt oder ob Gefahr besteht und wir besser die Polizei verständigen. Wenn es nebenan immer wieder poltert und die Nachbarin vielleicht ein blaues Auge hat, kann ich sie auf der Treppe ansprechen und Hilfe anbieten. Nicht mit dem Holzhammer, das führt oft zur Abwehr, besser mit Fingerspitzengefühl. Man könnte sagen: ,Bei euch ist es in letzter Zeit öfter laut, wollen wir uns mal auf einen Kaffee treffen?‹ Das kann eine Brücke für ein Gespräch sein.«

Was sind die guten Momente in ihrem Beruf ? Wenn der Täter eine gerechte Strafe vom Gericht bekommen hat?
»So gerechtfertigt Geld- oder Gefängnisstrafen für die Gewalttäter auch sind – am Ende treffen sie die ganze Familie. Das mag für viele unverständlich sein, aber nicht alle Frauen streben eine Trennung an. Sie wollen, dass die Gewalt aufhört. Dabei kann eine Therapie helfen, zu der das Gericht den Täter verurteilt. Andere erkennen selbst, aufgeschreckt durch den Polizeieinsatz, dass ihr Verhalten nicht hinnehmbar ist. Auch für sie gibt es Unterstützungsangebote.«

Hilfe bei häuslicher Gewalt

Fünf Flyer liegen auf dem Tisch, die über die Formen von häuslicher Gewalt aufklären.
Fotos: M. Rövensthal

Im Notfall die Polizei unter 110 alarmieren
Frauenhaus: 0381 4544 06
Hilfetelefon »Gewalt gegen Frauen«: 116 016 (rund um die Uhr)
Interventionsstelle / Schutz und Hilfe bei häuslicher Gewalt: 0381 4582 938
BeLa | langfristige Beratung und Begleitung: 0176 4332 6923
Rechtsmedizinische Ambulanz der Universitätsmedizin Rostock dokumentiert Verletzungen gerichtsfest und kostenlos: – siehe Link
Therapie und Beratung für Täter / Ansprechpartner: Lutz Potthoff
0160 6872 735

Rechtsmedizin Rostock
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Grafik - empfangene E-Mail, Hand hält ein Mobiltelefon mit einem Icon, dass eingegangene E-Mails anzeigt

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